Die Wellen des Lebens reiten – Lebenskrisen als Chance

Vor einigen Jahren habe ich diese Zeilen geschrieben. Sie ähneln sehr dem Artikel „Wie ich wurde, was ich bin“ – aber sie haben nochmal eine andere Qualität, die ich Dir nicht vorenthalten will.

Du kannst die Wellen des Lebens nicht aufhalten...

„Du kannst die Wellen des Lebens nicht aufhalten, aber Du kannst lernen, auf ihnen zu surfen.“
Dieses Zitat von Jon Kabat-Zinn ist eines meiner Lebensmantren.

Als Meerliebende spricht mich dieses Bild mit Wasser und Wellen wohl besonders an. Das Leben passiert in Wellen – es fließt, staut und sprudelt manchmal – aber Wellen gibt es immer. Größere und kleinere. Mit den kleineren ist es noch recht einfach. Man nimmt ein bisschen Schwung, hüpft mit hoch und geht damit mit der Welle. Bei den mittelgroßen bis riesengroßen wird es dann schon schwieriger. Man sieht sie kommen – meistens früher, aber man schenkt ihnen keine Beachtung – und bis man realisiert hat, dass es besser gewesen wäre, das Surfbrett herauszuholen, ist man schon mittendrin im Strudel. Man wird durchgeschüttelt und gestrudelt, dass einem Hören und Sehen vergehen. Man schluckt Wasser, bekommt keine Luft mehr und hat das Gefühl zu ertrinken. Und manchmal wird man dann völlig erschöpft, energie- und kraftlos an den Strand gespült. Dann heißt es erstmal ausruhen und sich selbst wieder zusammenklauben. Ja, ich weiß wovon ich spreche.

Wie ich gelernt habe die Wellen des Lebens zu surfen

Nach der Grundschule steht der Wechsel auf’s Gymnasium an. Weil man es halt so macht. Es herrscht ein großer Leistungsdruck an dieser Schule. So viele so viel wichtigere Dinge im Kopf werde ich täglich gemeinsam mit anderen „Nichtsnutzen“ von meinem Latein-Lehrer daran erinnert, dass ich nicht auf diese Schule gehöre. Die Spitze meiner Erfahrung an dieser Schule war eine Selbstmord-Serie, in der sich 3 junge Menschen in kurzem Abstand das Leben nahmen. Zum ersten Mal frage ich mich, in welcher Welt wir denn leben, in der Leistung und Status offenbar so viel mehr wert sind, als Menschenleben und Wertschätzung.

Leben retten

Ein paar Mal wurde ich in meinem Leben schon von einer Welle an den Strand gespuckt…

Das erste Mal war während meiner Tätigkeit als Sozialpädagogin in der Jugendhilfe. Ich liebte diese Tätigkeit. Ich liebe Menschen und ich liebe es, sie zu begleiten und dazu beizutragen, dass sie ihren Weg finden. Gerade bei jungen Menschen, die in ihrem noch sehr jungen Leben schon sehr viel erleben mussten, ging mir das Herz auf, wenn ich sehen konnte, dass sie einen guten Weg einschlugen. Das ein oder andere Mal habe ich sehr mitgelitten, was auch nicht sehr gesund war, aber ich konnte als Sozialpädagogin viele meiner Gaben leben und ging sehr in meiner Tätigkeit auf.

Ein Tag wie jeder andere

Bis zu einem Tag, der alles auf den Kopf stellte. An diesem Tag erhielten wir in meiner Familie eine Diagnose über eine chronische Erkrankung. Unheilbar mit möglicherweise schlimmem Verlauf. Nichts war mehr wie vorher. Die erste Zeit war geprägt von schlaflosen Nächten, Heulanfällen und ein ewiges „Warum?“, „Warum dieser Mensch und kein anderer?“, „Warum? Warum? Warum?“. Nach dem ersten Schock wurde mir klar, dass es genau solche Lebensereignisse sind, die einen erkennen lassen, was wirklich wirklich wichtig im Leben ist.

Ich fing an, meinen Lebenswandel zu überdenken, befasste mich mit gesunder Ernährung, Naturheilkunde und allem was dazu gehört, um mein Leben bewusst zu gestalten. Durch dieses Ereignis fühlte ich mich aber beruflich nicht mehr in der Lage, jungen Menschen in belastenden Lebensumständen zu helfen. Ich hatte das Gefühl, keine Kraft mehr für andere Familien zu haben, da alle meine Kraft für meine eigene und für mich gebraucht wird.

Die zweite Strandung

Durch einen glücklichen Zufall gestaltete sich der Übergang in die Wirtschaftswelt sehr leicht und es sah nach einem tollen Job aus, der vielseitig war und großen Spaß machte. Marketing, Eventmangement & Trainings waren ab jetzt meine Welt und ich stürzte mich mit Karacho in die Arbeit. 6-Tage-Wochen, unzählige Überstunden und Arbeit bis spät abends waren keine Seltenheit. Zu Hause wartete zu dieser Zeit niemand auf mich, also war das auch zunächst ganz super, meine Leere mit Arbeit zu füllen. Ich verlor komplett die Verbindung zu mir, meiner Körper-Geist-Seele-Einheit und ich konnte meine Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen. So blieben die ersten Stress-Symptome wie Herzrhythmusstörungen, Tinnitus und Magenschleimhautentzündungen auch nicht aus. Schnell war ich an dem Punkt gelangt, an dem es nicht mehr ging. Ein Shift musste her. Ich reduzierte meine Arbeitszeit und entdeckte wieder Yoga, Meditation, Ayurveda und Energiearbeit für mich. Diese Lebenskünste sind mein Ruhepol, mit deren Hilfe ich gelernt habe, die Wellen des Alltags leichter zu surfen. Die mir helfen, in mich reinzuhören und meine Balance zu halten.

Meine innere Ruhe wiedererlangt, lernte ich meinen Mann kennen. Wir heirateten und bald darauf gründeten wir eine Familie. Und hier rollt dann auch die dritte Welle an…

Wer bin ich und wenn ja wie viele?

Mit der Geburt meines ersten Kindes wurde zunächst auch eine neue (alte) Tina (wieder)geboren – eine, die eine große Sehnsucht verspürt, etwas zu bewirken, einen Unterschied in dieser Welt zu machen. Mit der Geburt des zweiten Kindes wuchs die Sehnsucht noch mehr. Denn ich wünsche mir für meine Kinder eine Zukunft, in der es normal ist, sein Leben nach seinen eigenen Regeln zu leben, in der es normal ist, sein Potenzial voll leben zu können und sich frei zu entfalten und in der es völlig normal ist, dass man bzw. Frau entsprechend seiner ureigenen Natur sowie im Einklang mit Körper, Geist & Seele lebt und arbeitet. Dass es normal ist, im Einklang mit der Natur zu leben und diese zu pflegen und zu achten. Dass Arbeit so viel Spaß macht, dass sie nicht mehr als Arbeit gesehen wird, weil sie einen mit tiefstem Sinn erfüllt. Dass es absolut normal ist, dass Frauen beruflich erfüllt sein können – obwohl und vielleicht auch gerade weil sie Mütter sind. Und dass es völlig selbstverständlich ist, dass Kinder einen großen Stellenwert in der Familie haben, die den Raum erhalten, den sie verdienen und brauchen, um sich frei entfalten zu können. Damit sie gewaltfrei, sicher, geborgen und frei von Altlasten aus anderen Generationen aufwachsen können.

Neue Sicht aufs Leben

Meine Werte, meine Weltanschauung und meine Sicht auf das Leben haben sich mit meiner Mutterschaft komplett geändert und damit auch mein Lebensstil. Ich bin kompromissloser, gebe meiner Intuition wieder mehr Raum, lebe bewusster und so weit wie möglich im Einklang mit der Natur. Mittlerweile.

Anfangs war es sehr schwer, meinen neuen Platz zu finden. Aus der leistungsorientierten Wirtschaft kommend saß ich auf einmal 24 Std. mit meiner kleinen Tochter da. Die erste Zeit war toll, aber nach ein paar Monaten schlich sich in mir eine Unzufriedenheit ein. Ich kann doch jetzt nicht ewig nur noch dasitzen und „nichts“ tun. Dafür habe ich nicht studiert. Dafür habe ich mich die letzten Jahre doch nicht weitergebildet und reingehängt. „Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein…“ Puh. Ich stand vor der großen Herausforderung, die neue Lebenssituation mit der „alten“ Sehnsucht nach beruflicher Erfüllung zusammenzubringen. Ich wollte etwas bewirken, einen Unterschied machen und meinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Und gleichzeitig wollte ich für meine Tochter da sein. Keine leichte Sache… und alleine zu Hause in meinem stillen Kämmerlein nicht realisierbar.

Neue Sicht auf mich

Parallel zu meiner großen Sehnsucht kam noch eine weitere essenzielle Erkenntnis hinzu, die ich erst durch mein Muttersein erhalten habe.

Immer öfter gelangte ich als Zweifach-Mama an meine Grenzen, hatte wieder gesundheitliche Probleme, aus dem mangelnden Schlaf wurden Schlafstörungen und mental war ich immer mal wieder nahe an einem Zusammenbruch. Herzrhythmusstörungen, Tinnitus und Magenschmerzen waren wieder da. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte mir meine Kinder von Herzen gewünscht und jetzt saß ich da, völlig energielos und am Ende. Ohne Kraft und mit noch weniger Selbstbewusstsein. Ich dachte, ich bin die Einzige, der es so ergeht, der „immer alles“ zu viel ist und die sich in die Natur rettet, sobald der Mann zur Tür hereinkommt, um die Kinder zu übernehmen. Die kaum noch soziale Kontakte hat, weil sie sich nach einem „Kindertag“ nur noch nach Stille und Alleinsein sehnt.

"Sei doch nicht so empfindlich!"

Über einen Artikel in den sozialen Medien kam dann mein großer Aha-Moment. Ich bin das, was man im Allgemeinen als „hochsensibel“ bezeichnet. Das heißt, ich habe eine feinere Wahrnehmung, stärkeres Sinnesempfinden und stärkere Gefühle, als „normale“ Menschen. Ich nenne mich lieber feinfühlig. Ich mag eigentlich überhaupt keine Schubladen – schon gar keine Begriffe, die mit „hoch“ anfangen, weil ich Menschen gerne einfach so nehme, wie sie sind. Ohne Diagnosen und Stempel. Aber hier muss ich zugeben, dass mir diese Schublade sehr geholfen hat. Denn mir ist so viel klarer geworden, warum ich erlebt habe, was ich erlebt habe und warum ich fühle wie ich fühle. Warum mir früher gesagt wurde „Sei doch nicht so empfindlich!“ oder „Jetzt übertreib doch nicht so!“. Warum ich nach der Diagnose in der Familie nicht mehr in der Jugendhilfe arbeiten wollte. Warum mir die Consultingwelt viel zu hart, laut und hektisch war. Warum ich jetzt als Mama auf quirligen Kindergeburtstagen ziemlich bald ziemlich schnell ganz weit weglaufen möchte und mir abends dann der Kopf dröhnt. Warum es mich innerlich zerreißt, wenn eines meiner Kinder weint. Warum ich ganz dringend meine Ruhe-Inseln in Stille und Alleinsein, am besten im Grünen, brauche.

Und jetzt weiß ich auch, wie ich damit umgehen und meine Feinfühligkeit als große Gabe sehen kann. Ich holte mir Unterstützung, denn alleine hätte ich es nicht geschafft. Der Weg dahin war holprig und mit vielen Aufs und Abs. Rückschläge, Straucheln kommen immer wieder – aber mit jedem Straucheln und wieder Aufstehen komme ich noch mehr in meine Energie und auf meinen ureigenen authentischen Weg und das fühlt sich wunderbar an.

Krisen sind Chancen

Warum erzähle ich Dir das alles? Weil ich überzeugt bin, dass Lebenskrisen dazu da sind, uns wachsen zu lassen. So hart es auch klingt und so schmerzhaft Krisen auch sein können – ich wäre nicht da, wo ich heute bin. Ich hätte nicht das Bewusstsein, das ich heute habe, hätte ich das alles nicht erlebt. Wo wäre ich, wenn ich das alles nicht erlebt hätte? Ich glaube, dort würde ich heute gar nicht mehr sein wollen – und dafür bin ich unglaublich dankbar.

Die Seele will wachsen - eine neue Weltanschauung

Unsere Seele kommt im Körper eines Menschen auf die Welt, um Erfahrungen zu machen und zu wachsen. Nichts passiert, ohne einen Grund. Wir erleben gewisse Ereignisse, weil unsere Seele lernen – oder uns auf etwas, das wir noch lernen dürfen, hinweisen will. Wir haben dann dazugelernt und uns wichtige Tugenden oder Eigenschaften angeeignet. Meist kommen wir stärker aus der Krise, als wir vorher waren. Ich finde diese Perspektive für mich persönlich sehr heilsam. Vielleicht ist sie das für Dich auch.